Scheitern im Beruf
Das Scheitern im Beruf gehört zu den großen Tabuthemen unserer Zeit. Erfolg, Karriere, Reichtum - diese Werte drücken derzeit unserer Gesellschaft den Stempel auf. Bücher, die den Verdienst der ersten Million binnen weniger Jahre versprechen, haben Konjunktur. Für gefährlich einseitig hält der Berater für Unternehmen und Führungskräfte Johannes Czwalina (Riehen bei Basel) diesen Trend. Der evangelische Theologe plädiert für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Leistungsdruck und Lebensqualität und fordert dazu auf, im Leben auch mit beruflichem Scheitern zu rechnen.
Es gibt jede Menge Bücher,
die uns den Weg zum Erfolg weisen, aber kaum eines, das uns den Umgang mit dem
Scheitern erklärt. Das ist um so erstaunlicher, als ja in jedem Leben
beides permanent vorhanden ist. Die heutige wirtschaftliche Situation, die
durch immer größeren Konkurrenzdruck beherrscht wird,
"produziert" geradezu notwendigerweise für die Gewinner ihre
Verlierer. Obwohl wir täglich mit beidem gleich oft konfrontiert sind, gehört
das Scheitern zu den großen Tabuthemen unserer Zeit. Erfolg und Scheitern
liegen ganz nah beieinander und stehen in einer Wechselbeziehung.
Ganz oben - und doch
nicht am Ziel
Ich erinnere
mich an das Gespräch mit einem Konzernchef in einem renommierten Hotel in
Berlin. Diesen Mann hatte ich vor unserem Gespräch noch nie gesehen, und
ich begann das Gespräch anders als üblich. Ich stellte ihm Fragen über
seine Kindheit, seine Pläne und Träume, die er als Junge gehabt
hatte, und fragte danach, wie viele er davon hatte verwirklichen können
und welche gescheitert waren. Das brachte ihn offenbar in ein Nachdenken, das
Schmerz über unerfüllte Träume und Enttäuschungen zutage
brachte. Plötzlich fing dieser Mann mitten in der Hotelhalle an zu
schluchzen. Es dauerte vielleicht eine Viertelstunde an. Einige Menschen
drehten sich betroffen um. Ich wußte, daß es gewissermaßen
eine im Zeitraffer stattfindende innere Bestandsaufnahme war. Er erlebte
innerhalb von Minuten die Fahrt auf der Achterbahn: Er vergegenwärtigte
sich das Bergauf der Hoffnungen seiner Kindheit, das Bergab der Realitäten
seiner Berufsjahre, die Trauer über Verlorenes und Zerbrochenes, die
Annahme seines Schicksals und die Neuorientierung, wie er später sagte.
Mir wurde klar, daß wir Bestandsaufnahmen, wie sie in einer Krise im Großen
geschehen, eigentlich regelmäßig im Kleinen durchführen
sollten.
Wen
"Götter" zerstören wollen, dem schicken sie Erfolg
Der Charakter
eines Menschen kann gerade in schwierigen Zeiten zur Reife gelangen. Er wird
gewöhnlich nicht in Zeiten des Erfolges geformt, sondern nutzt sich in
solchen Zeiten eher ab. Ein amerikanisches Sprichwort sagt treffend: "Wen
die Götter zerstören wollen, dem schicken sie dreißig Jahre
lang Erfolg." So gesehen täte es unserer Gesellschaft eigentlich nur
gut, wenn es mehr Erschütterungen, mehr Zusammenbrüche und einstürzende
Gebäude gäbe, damit mehr Neuanfänge, Wiederaufbau und bessere,
haltbarere Neubauten entstehen könnten.
"Hier ist das Ende
der Leiter"
Krisen und
Scheitern sind in unserem Leben ein wichtiger Bestandteil. Daraus ergibt sich
aber die Frage: Wenn das wichtigste Ziel nicht die oberste Karrieresprosse sein
kann, was ist es dann? Ein Vorstandsmitglied einer großen Bauunternehmung
besuchte mich. Ich fragte ihn nach seinem Ziel. Er sagte:
"Vorstandsvorsitzender." Ich antwortete: "Ich kenne einige, die
diese Position erreicht haben und ganz oben an der Leiter angekommen sind. Da
oben ist ein kleines Schild angebracht, das aber nur diejenigen lesen können,
die eben ganz oben angekommen sind." Er fragte mich, ob ich ihm denn nicht
verraten würde, was da oben stehe. Ich antwortete: "Auf diesem
Schildchen steht: Hier ist das Ende der Leiter!"
In der Krise gereift
Dieses Ziel
wollen wir nicht sehen, wir verdrängen es. Eine Karriereleiter ist immer
begrenzt. Einmal kommt immer das obere Ende. Dort oben kommt die Erkenntnis oft
zu spät, daß Nutzloses nicht dadurch an Wert gewinnt, daß man
es effizient erledigt. Nur ein veränderter Blickwinkel kann dieses alte
Erfolgsmuster durchbrechen, welches sich nur begrenzt auf die Qualität von
Funktionsabläufen bezieht statt auf tragfähige Ziele. Vier Wochen
nach unserer Begegnung rief mich der gleiche Mann wieder an und berichtete sehr
niedergeschlagen, daß er innerhalb dieser Zeit sowohl von der
Karriereleiter gestürzt war als auch zur gleichen Zeit sein Sohn von einer
Krankheit befallen wurde, die sich zur lebensgefährlichen Bedrohung
entwickelte. Es folgten Monate tiefer Dunkelheit, Verzweiflung und Ohnmacht,
seelischer Schmerzen, negativer Gefühle, Trauer, Depression, Wut und
Resignation. Kurze Zeit darauf wurde er in einem anderen Unternehmen
Vorstandvorsitzender, sein Sohn wurde wieder gesund. "Nie möchte ich
diese Erfahrung im Nachhinein missen. Das, was ich in dieser Zeit für mein
Leben lernte, war mehr als die vielen Jahre in erfolgreicher Geschäftsführung",
vertraute er mir später an.
Hilfreiche
"Todesübung"
Ein Professor in
den USA hat seine Studenten gebeten, eine Woche lang mit folgender Übung zu
leben: "Nehmen Sie an, Sie hätten nur dieses eine Semester zu leben.
Während dieses Semesters sollen Sie als Student an der Uni bleiben.
Stellen Sie sich vor, wie Sie dieses Semester verbringen würden und führen
Sie über diese Zeit Tagebuch." Es tauchten plötzlich Werte auf,
die vorher nicht einmal erkannt worden waren. Die Studenten schrieben plötzlich
ihren Eltern, wie sehr sie sie liebten und schätzten. Sie versöhnten
sich mit Geschwistern oder Freunden, zu denen die Beziehung schlecht geworden
war. Das beherrschende Thema ihrer Aktivitäten waren Taten der Liebe.
Gedanken der Rache und Anschuldigungen schmolzen, als sie daran dachten, daß
sie nur noch kurz zu leben hatten. Werte wurden für jeden einzelnen viel
klarer und deutlicher. Wenn Menschen ernsthaft versuchen zu identifizieren,
worauf es in ihrem Leben in der Hauptsache ankommt, wer sie wirklich sein und
was sie tun wollen, dann beginnen sie, in größeren Begriffen als
heute und morgen zu denken. Das Schweizer Fernsehen drehte in einem Portrait über
meine Tätigkeit eine Szene auf einem Friedhof. Ein Manager aus Zürich
sah zufällig diese Sendung, fotografierte die Szene und sandte mir dann
mein Portrait vor den Grabsteinen zu. Mit einem dicken Filzstift schrieb er über
das Bild den Satz: "Unsere Friedhöfe sind voll von unentbehrlichen
Managern.
Das Ende vor Augen haben
Was für
unser gesamtes Leben gilt, hat auch bei der Planung kurz oder mittelfristiger
Aktivitäten seine Gültigkeit. Wenn man keine Angst davor hat, bei der
Planung seiner Vorhaben schon deren Ende ins Auge zu fassen, kann man die
einzelnen Schritte am Tag anders ausrichten und bewerten. Man kann die zur Verfügung
stehende Zeit souveräner füllen und seine Prioritäten besser
bewerten. Es ist möglich, sehr viel zu erreichen und dabei im Grunde sehr
wenig effektiv zu sein. So opfern viele in den ersten Jahren die Gesundheit
ihrer Karriere, um einen Haufen Geld zu verdienen, in der zweiten Hälfte
ihrer Karriere dann den ganzen Haufen Geld, um ihre Gesundheit zurückzuverdienen.
Für den Erfolg opfert man das, was man durch keinen Erfolg bezahlen kann.
Wenn wir demgegenüber unser Ziel und unser Ende vor Augen haben, können
wir unsere Prioritäten jeden Tag auf das richten, wo-
rauf es ankommt. In unserer Gesellschaft fehlt letztlich die Grundlage zur
Reifung und zur ausgewogenen Sicht der Dinge, solange der Tod permanent nur
verdrängt wird.
Die Chance des Leidens
Scheitern ist
eine Erfahrung, die auch Christen nicht erspart bleibt. Aber der Glaube kann
ihnen helfen, ihre kritische (und manchmal vielleicht sogar existenzbedrohende)
Situation durchzustehen. Christen sollten sich folgendes bewußt machen:
Gottes Liebe zu uns hängt nicht davon ab, wie es uns geht. Der
Erfolgreiche ist nicht der Geliebtere!
Wir müssen die Souveränität Gottes ernstnehmen. Er ist in der
Weise, wie er unsere Geschicke lenkt, völlig unabhängig. Wir sollten
wahrnehmen, daß es oft gerade Krisenzeiten sind, in denen die Menschen
ihr Herz wieder Gott zuwenden und ihren Glauben vertiefen.
Probleme sind nicht dazu da, uns zu ärgern. Manchmal sind sie eine
Schranke in unserem Leben, die uns vor einem tieferen Absturz bewahrt. Im
Leiden liegt auch eine Chance, nämlich daß wir reifer, geduldiger
und liebender werden.
Wir sollten unser Leben immer vom Ende her denken und uns - durchaus auch in
jungen Jahren - aufs Sterben vorbereiten. Eine der Konsequenzen daraus ist: Wir
sollten uns über unsere großen Erfolge nicht allzusehr freuen - und über
große Schwierigkeiten nicht allzu traurig sein.
Artikel aus IDEA-Spektrum